1. Juni 2020

 

Empfehlungen der BAGFW und des DGB

zu den überarbeiteten Vorschlägen der EU-Kommission zum MFR 2021-2027, dem

Wiederaufbauinstrument und dem ESF+: Finanzierung des sozialen Europas in Gefahr!

Im Mai 2018 hat die EU-Kommission ihre Vorschläge für einen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 sowie Vorschläge für Verordnungen der verschiedenen Förderprogramme der nächsten Förderperiode vorgelegt.[1] Dabei ist der ESF+ das wichtigste Instrument, um die Europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen. Auf dieser Grundlage haben die EU-Mitgliedstaaten die Programmierung der Strukturfonds und die Erarbeitung der Partnerschaftsvereinbarungen begonnen. Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hat die EUKommission am 27. Mai 2020 einen überarbeiteten Vorschlag für den MFR 2021-2027, der von einem Wiederaufbauinstrument in Höhe von 750 Mrd. Euro ergänzt wird, sowie Änderungen an einigen sektorspezifischen Verordnungen vorgestellt.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßen einen starken EU-Haushalt, der sich an den langfristigen Zielen der EU orientiert, und zusätzliche Fördermittel über das Wiederaufbauinstrument. Um die europäischen Gesellschaften und Sozial- wie Gesundheitssysteme krisenfest zu gestalten, müssen diese Gelder jedoch neben dem wirtschaftlichen Wiederaufbau auch in Organisationen der Zivilgesellschaft, die Verbände und gemeinnützige Sozialunternehmen investiert werden. Diese bilden das Rückgrat resilienter Gesellschaften und Systeme. Der Verweis auf die weite EU-Definition von KMU ist in diesem Zusammenhang nicht ausreichend. Stattdessen sollten auch NGOs und gemeinnützige Sozialunternehmen explizit in den Rechtstexten erwähnt werden.

Ein soziales Europa baut auf Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, fairen Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und sozialer Inklusion auf. Der an der Europäischen Säule sozialer Rechte ausgerichtete ESF+ investiert in genau diese Themen. Die zusätzlichen Mittel für die Strukturfonds über das Wiederaufbauinstrument verfolgen mit der akuten Krisenbewältigung eine andere Zielsetzung als der ESF+, der längerfristig soziale Verwerfungen bekämpft. Der ESF+ darf daher unter keinen Umständen in der neuen Förderperiode gekürzt werden!

Kritisch sehen wir außerdem, dass ein Großteil der Gelder für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität fließen soll.

Damit wird ein Fonds geschaffen, der ein ähnlich hohes Volumen wie alle Strukturfonds zusammen hat und eine ähnliche Zielsetzung verfolgt, ohne die gleichen Mitspracherechte, die den Wirtschafts- und Sozialpartnern und Regionen im Rahmen des Partnerschaftsprinzips bei den Strukturfonds gewährt werden. Mit großer Sorge betrachten wir die vorgeschlagenen Kürzungen an Programmen, die direkt in Menschen investieren.

Mit Blick auf den Europäischen Sozialfonds ESF+ sehen wir in sieben Punkten dringenden Änderungsbedarf:

1.     Keine Kürzungen am Gesamtbudget des ESF+ 2021-2027

Laut Kommissionsvorschlag ist für den ESF+ im Bereich der geteilten Mittelverwaltung ein Budget von 96,571 Mrd. Euro in lfd. Preisen vorgesehen. Das würde eine Kürzung von rd. 3,43 Mrd. Euro in lfd. Preisen (= rd. 3,4 Prozent) gegenüber dem Kommissionsvorschlag vom Mai 2018 darstellen (s. Tabelle). Unter der Annahme, dass Deutschland auch weiterhin seinen Anteil am ESF+ von 6,205 % behält (dies ist allerdings nicht klar), würde der ESF+ in Deutschland gegenüber dem bisherigen Kommissionsvorschlag vom Mai 2018 einen dreistelligen Millionenbetrag verlieren. Dies ist vor dem Hintergrund zu bewerten, dass Deutschland im Vergleich zur vorherigen Förderperiode 2014-2020 beim ESF+ schon gemäß des bisherigen Kommissionsvorschlages (vom Mai 2018) rund 1,37 Mrd. Euro ESF-Mittel in laufenden Preisen (rd. 18 Prozent) verlieren würde.

 

KOM-Vorschlag

02.05.2018 in

Mrd. Euro

KOM-Vorschlag

27.05.2020 in

Mrd. Euro

Differenz absolut in Mrd. Euro Differenz relativ in %
ESF+    geteilte             Mittelverwaltung Gesamt EU 100,00 96,571 3,43 -3,43
davon ESF+ Deutschland 6,205* liegt nicht vor

*Berechnungen der Europäischen-Kommission

 

Eine derartige zusätzliche Kürzung des ESF+, der soziale Probleme abfangen, Beschäftigungsfähigkeit sichern und einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten soll, ist auch angesichts des Strukturwandels parallel zu den Folgen der COVID-19-Pandemie nicht zu rechtfertigen. Gleichzeitig ist der ESF+ ein Programm mit und für die Zivilgesellschaft, das direkt in die Menschen investiert und damit eine gesellschaftspolitische Bedeutung erfährt.

2.     Kofinanzierungssätze mindestens auf dem Niveau der laufenden Förderperiode halten

Die EU-Kommission schlägt vor, dass für die im Rahmen von REACT-EU bereitgestellten Mittel, die in ESF, EFRE und EHAP geleitet werden können, Kofinanzierungssätze bis zu 100 % möglich (Art. 1, 11 REACT-EUVerordnung).

 

Dieser Vorschlag ist wichtig und hilfreich. Allerdings müssen bei vielen Programmen, die der Beihilfe unterliegen, die Förderhöchstsätze der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) beachtet werden. Um diese Möglichkeit nutzbar zu machen, muss daher unbedingt eine Ausnahmeregelung für die Förderhöchstsätze der AGVO herbeigeführt werden. Für die Förderperiode 2021-2027 sollten die Förderhöchstsätze der AGVO von den Kofinanzierungssätzen der Dachverordnung entkoppelt werden.

Keine Änderung gegenüber dem Kommissionsvorschlag vom Mai 2018 gibt es bei den vorgeschlagenen regulären Kofinanzierungssätzen der Dachverordnung nach Art. 106, 3:

Regionen Kommissionsvorschlag  Laufende Förderperiode
Weniger entwickelte Regionen 70 % bis zu 85 %
Übergangsregionen 55 % bis zu 80 %
Stärker entwickelte Regionen 40 % bis zu 50 %

Die vorgesehenen Kürzungen der EU-Kofinanzierungssätze sind nicht akzeptabel und für die bestehenden Fördersysteme schwer zu verkraften. Die Erfahrung zeigt, dass die Mitgliedstaaten die Kofinanzierung zu einem Großteil an die Projektträger weiterreichen. Statt zusätzliche nationale Gelder zu generieren, bringen die geringeren EU-Kofinanzierungssätze die projektumsetzenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, Verbände, Unternehmen oder Kommunen in finanzielle Schwierigkeiten. Viele Begünstigte können unter den derzeitigen Förderbedingungen die Gegenfinanzierung schon kaum beibringen. BAGFW und DGB fordern deshalb, eine Förderquote mindestens in Höhe der laufenden Förderperiode zu garantieren. Andernfalls wird der ESF+ kaum noch umzusetzen sein. Hier sind insbesondere Projekte in finanzschwächeren Regionen gefährdet, weil es nicht realistisch ist, dass die verbliebenen 30, 45 bzw. 60 Prozent von den Trägern oder Begünstigten (wie z.B. sozial benachteiligte Personen) abgedeckt werden. Somit wäre das Risiko, dass Mittel nicht abgerufen werden, enorm groß.

3.     Kein verpflichtender Transfer von Mitteln des ESF+ und EFRE in den Just Transition Fund

Im Januar 2020 hat die EU-Kommission im Rahmen ihres Grünen Deals einen Klima-Übergangsfonds (Just Transition Fund, JTF) vorgeschlagen. Der JTF ist das sozialpolitische Instrument der EU, um einen fairen Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu ermöglichen und dabei den sozioökonomischen Strukturwandel in den betroffenen Regionen zu unterstützen. Durch die überarbeiteten Vorschläge soll das Budget des JTF im

MFR von 7,5 Mrd. Euro auf 10 Mrd. Euro erhöht und zusätzlich mit 30 Mrd. Euro aus dem Wiederaufbauinstrument ergänzt werden. BAGFW und DGB begrüßen grundsätzlich die Zielsetzung des JTF und die Aufstockung der Mittel. Problematisch ist jedoch, dass durch Art. 21a der Dachverordnung Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet werden sollen, pro Euro aus dem JTF zwischen 1,5 und 3 Euro aus dem ESF+ und dem EFRE für den JTF umzuwidmen (bis zu 20 Prozent des jeweiligen Fonds). Dies kann zu einer weiteren erheblichen Kürzung des ESF+ führen, was unbedingt verhindert werden soll. Deshalb empfehlen BAGFW und DGB keinen verpflichtenden Hebel zur Umschichtung einzuführen, sondern Synergien zwischen den Fonds zu stärken. ESF+ und EFRE sollten stattdessen innerhalb ihrer Zielsetzung den Übergang in eine klimaneutrale

Wirtschaft und Gesellschaft flankieren.

4.     Mit REACT-EU soziale Verwerfungen verhindern

BAGFW und DGB begrüßen ausdrücklich die Stärkung der laufenden Fonds ESF, EHAP und EFRE durch zusätzliche Mittel des Programmes REACT-EU für die aktuelle Förderperiode 2014-2020, da so die Lücke zur neuen Förderperiode überbrückt werden kann. Aufgrund der n+3-Regelung müssen die Gelder bis Dezember 2023 gebunden und ausgegeben werden. Diese enge Zeitleiste stellt Verwaltungsbehörden und Projektträger vor immense Herausforderungen.

Für BAGFW und DGB ist zentral, dass die zusätzlichen Kohäsionsmittel unmittelbar den Menschen zu Gute kommen, um soziale Verwerfungen zu verhindern und die direkten Folgen der COVID-19-Pandemie zu lindern. Während REACT-EU die aktuell akuten Probleme der COVID-19-Pandemie lindert („Notfallgeld“), soll der ESF+ die langfristigen Folgen und soziale Verwerfungen abfedern. Beide Fonds haben also unterschiedliche Zielsetzungen und können nicht gleichgesetzt bzw. additiv verrechnet werden.

5.     Indikatoren des ESF+ vereinfachen

Die umfangreiche, insbesondere die personenbezogene, Datenerfassung der aktuellen Förderperiode hat zu großen Problemen bei der Programm- und Projektumsetzung geführt. In ESF-Projekten konnten Teilnehmende oftmals nicht für die Förderung gezählt werden, wenn diese ihre Daten nicht vollständig abgegeben haben. Dies bedeutet, dass der Projektträger für diese Teilnehmenden kein Geld aus dem ESF erhalten hat. Trotz ihrer Bemühungen um Vereinfachung des ESF+ hat die EU-Kommission ihren Vorschlag zur Indikatorik in Anhang I und II der ESF+-Verordnung nicht geändert.

BAGFW und DGB empfehlen daher, von der Erhebung nicht relevanter Daten abzusehen und die geforderten Indikatoren programmspezifisch anzupassen. Der Vorschlag des Rates, bekannte Angaben von den Verwaltungsbehörden „vorzubelegen“, geht dabei in die richtige Richtung. Dennoch sollte die Zahl der Indikatoren weiter verringert werden. Um Diskriminierung zu vermeiden und die Datenerhebung auf freiwilliger Basis bei besonders benachteiligten Personengruppen oder bei Minderjährigen zu erhöhen, sollte die Möglichkeit gegeben werden, diese Daten anonymisiert zu erheben. Eine einmalige Überprüfung der Ergebnisindikatoren nach sechs Monaten sollte ausreichen. Zudem fordern wir ein noch weiter vereinfachtes Indikatorenset für Maßnahmen, die den ex-EHAP betreffen. Die Arbeit mit Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, einschließlich der am stärksten benachteiligten Personen und Kinder, erfordert ein besonderes Fingerspitzengefühl bei der Datenerhebung. Diese Personengruppen haben oftmals eine von Diskriminierung und Ausgrenzung geprägte Lebenssituation. Jegliche personalisierten Angaben zur Person müssen daher vermieden werden. Zudem muss eine absolute Anonymität der Datenerhebung sichergestellt werden. Die Erhebung längerfristiger Ergebnisindikatoren ist bei diesen Zielgruppen nicht möglich. Daher ist ein gesonderter Anhang zur Indikatorik außerhalb der anderen ESF+-Maßnahmen nötig.

 

6.     Partnerschaftsprinzip und Kapazitätenaufbau der Partnerorganisationen stärken

Die Erfahrung der laufenden Förderperiode hat gezeigt, dass Programme besonders erfolgreich und passgenau durchgeführt werden, wenn eng und auf Augenhöhe mit zivilgesellschaftlichen Partnern zusammengearbeitet wird. Dies betrifft die Programmplanung, Durchführung und Evaluation der Fonds.

Der Europäische Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und

Investitionsfonds regelt umfassend die Organisation und Umsetzung der Partnerschaft in den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds für die Förderperiode 2014-2020. BAGFW und DGB begrüßen die Verpflichtung zur partnerschaftlichen Programmumsetzung. Um sicherzustellen, dass der Verhaltenskodex auch in der neuen Förderperiode 2021-2027 angewendet wird, sollte dieser explizit in Art. 8, 1 der ESF+Verordnung und Art. 6, 3 der Dachverordnung aufgenommen werden.

Aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen („capacity“) können die Partner weder das notwendige Wissen aufbauen noch ihre Rolle im Rahmen des Partnerschaftsprinzips in dem erforderlichen Maße wahrnehmen. Durch die COVID-19-Pandemie, die viele Partner in Existenznöte bringt, wurde diese Situation noch verschärft. Die Mitgliedstaaten sollten daher in Art. 8, 2 der ESF+-Verordnung wie vom Europäischen Parlament vorgeschlagen verpflichtet werden, mindestens zwei Prozent ihrer ESF+-Mittel zum Aufbau von Kapazitäten der Partner auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene bereitzustellen.

7.   Grenzpartnerschaften

Die Erfahrungen in den letzten Monaten während der COVID-19-Pandemie und den unkoordinierten Maßnahmen der Mitgliedsstaaten bezüglich Grenzschließungen, Grenzkontrollen und Quarantänemaßnahmen haben noch einmal verdeutlicht, wie wichtig verlässliche Information und Beratung von Grenzgänger_innen und Arbeitgeber_innen durch die Gewerkschaften und öffentlichen Arbeitsverwaltungen vor Ort in den Grenzräumen ist. Das Informations- und Beratungsvolumen ist in hohem Maße gestiegen und es ist deutlich geworden, dass die Beratungsangebote der Grenzpartnerschaften gestärkt werden müssen. Beim Übergang der Förderung aus dem EaSI-Programm in den ESF+ muss sichergestellt werden, dass es sich bei den Grenzpartnerschaften um auf Dauer angelegte Strukturen der Zusammenarbeit von öffentlichen Arbeitsverwaltungen und Sozialpartnern handelt. Diese Form der Partnerschaft hat sich bei der Bewältigung der Krise bewährt und sollte in Art. 2, 1 ESF+-Verordnung im Rahmen der Begriffsbestimmungen festgeschrieben werden. Gleichfalls muss sichergestellt werden, dass die Information und Beratung nicht nur im Zusammenhang mit Arbeitsvermittlung gefördert wird, sondern insbesondere auch während und nach einer grenzüberschreitenden Tätigkeit.

Der Volltext der Stellungnahme kann hier heruntergeladen werden.

Für die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege:

Lisa Schüler                   Andreas Bartels
Referentin für EU-Förderpolitik Referent für Europäische Kohäsions- und Strukturpolitik
Deutscher Caritasverband e.V. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Hauptvertretung Brüssel Zentrum für Drittmittelförderung
lisa.schueler@caritas.de andreas.bartels@diakonie.de
+32 2 235 0441 +49 30 652 11 1097

 

Für den Deutschen Gewerkschaftsbund:

Sabrina Klaus-Schelletter

Referatsleiterin, Abteilung Arbeitsmarktpolitik

DGB-Bundesvorstand

Sabrina.Klaus-Schelletter@dgb.de

+49 30 240 60 682

[1] Alle Unterlagen sind hier abrufbar: https://ec.europa.eu/commission/publications/factsheetslongtermbudgetproposals_de